Transdisziplinäre Delta-Analyse als verhaltenswissenschaftlicher Forschungsansatz
Transformative Forschung leistet einen Beitrag dazu, die "Sustainable Devopment Goals" (SDG´s) der Vereinten Nationen zu erreichen. [1]
Entsprechend ausgerichtete Forschung ist dazu angewiesen nicht nur auf die Veränderungswilligkeit und Mitwirkungsbereitschaft der Praxisakteure, sondern auch auf deren Wissensbestände und ihre Kreativität.
Vor diesem Hintergrund ist das methodische Vorgehen der "Transdisziplinären Delta-Analyse" (TDA) unterteilt in den sieben Schritte, bei denen wiederum drei Ebenen zu unterscheiden sind.
- Die folgende Abbildung zeigt auf der obersten realweltlichen Ebene die Basisschritte in der Waagerechten (vom Problemimpuls bis zur Umsetzung durch die Praxisakteure).
- In Hinblick auf das Ziel, für den Problemimpuls konkrete Lösungen zu finden, ist man in der Regel auf Verhaltensbeiträge der Akteure angewiesen. Um deren Motivationslage zu verstehen, sind die verhaltensbeeinflussenden Faktoren zu analysieren (mittlere Ebene).
- Die damit angesprochene motivationale Perspektive ist ihrerseits angewiesen auf ein methodisches Fundament, welches gewährleistet, dass man der die verhaltensrelevanten Faktoren systematisch erfasst (unterste Ebene).
Sieben Schritte der verhaltenswissenschaftlichen Delta-Analyse
- Realweltlicher Ausgangspunkt für eine "Delta-Analyse" ist ein spezifischer Problemimpuls, der sich ergibt aus einer konkreten Herausforderung im Zusammenhang mit Risiko- und/oder Nachhaltigkeitsaspekten.
In transdisziplinären Projekten spielen die Praxisakteure bereits in der Einordnung des Problemimpulses eine zentrale Rolle, weil sie über – teils „implizites“ – Wissen über die Umstände verfügen, die das Problem ausmachen (tacit knowlege; siehe "Wissenstypen"). Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen das zu bearbeitende Problem aus der Unternehmenspraxis stammt. Gemeinsam mit den Praxispartnern, zu denen neben Unternehmen etwa auch andere Organisationen (Verbände, NGO´s) gehören können, ist dann eine erste Fassung der "Kernfrage" zu definieren. Diese definiert den im folgenden näher zu betrachtenden Untersuchungsgegenstand ("boundary object").
Hinweis: Meist ist die Kernfrage in den folgenden beiden Schritten weiter zu konkretisieren, woraus sich Einschränkungen oder Erweiterungen im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand und die dafür relevanten Akteure ergeben. - Davon ausgehend konkretisiert das Projektteam (unter Beteiligung der jeweiligen Praxisakteure) die Zielbeschreibung unter Berücksichtigung normativer Anforderungen: Zu formulieren ist, was unter der Perspektive der angemessenen Beherrschung der Risiken bzw. der Nachhaltigen Entwicklung realweltlich anzustreben ist. Um diesen „Soll-Zustand“ und den dafür notwendigen Untersuchungsrahmen herauszuarbeiten, stellt das Projektteam eine Verbindung zwischen Systemwissen und normativer Orientierung her. Dazu zählt dann erneut die Frage, welche Akteure im Hinblick auf den Soll-Zustand relevant sind und wie man sie in dieser Phase, aber auch in den folgenden Untersuchungsschritten mit einbeziehen kann (Transformationswissen).
Im Hinblick auf den zu erreichenden Soll-Zustand ist – jedenfalls in grober Form – zu konkretisieren, welche Verhaltensbeiträge von welchen Akteuren wann und in welcher Form dabei zu leisten sind bzw. wie sie dabei kommunizieren und kooperierten sollten. Dieser Untersuchungsschritt konkretisiert die normativen Anforderungen. Daraus leitet das Projektteam Kriterien ab, an denen sich - im Hinblick auf die Kernfrage - die realweltlichen Verhaltensbeiträge der Akteure beurteilen lassen. Es hat sich bewährt, die Kriterien zu ergänzen um Merkmalsausprägungen, anhand derer sich beurteilen lässt, in welchem Ausmaß die Kriterien bereits erfüllt sich - oder wo sich noch Lücken zeigen. Vor dem Hintergrund der so konkretisierten Zielvorstellung wandert der Blick wieder auf die Ist-Situation. Zunächst ist anhand der Kriterien das realweltliche "Delta" präziser formulieren.
Daran anknüpfend wendet man sich dann der Frage zu, WARUM die Akteure aktuell so handeln, wie sie es tun.Hierzu bietet es sich an, auf die Anreiz-Hemmnis-Analyse der interdisziplinären Institutionenanalyse ((für die Lehre und die anwendungsorientierte Forschung in knapper Form zusammengestellt in dem „Kompaktleitfaden", Bizer & Führ 2014, aktualisierte Arbeitsfassung 2022, Neuauflage 2024 i.V.) zurückzugreifen: Sie berücksichtigt die individuellen Fähigkeiten und persönlichen Möglichkeiten der Akteure; ihre besondere Stärke liegt darüber hinaus in dem systematischen Blick auf weitere Faktoren, die in der konkreten Situation die Motivationslage der Akteure erklären können.
Dieses Vorgehen nimmt für die einzelnen Akteure
- sowohl deren individuelle Fähigkeiten (geprägt durch Ausbildung, Erfahrung etc.)
- als auch die persönlichen Möglichkeiten (geprägt etwa durch die Zuständigkeiten und Aufgabenverteilung in der jeweiligen Organisation, aber durch auch die rechtlichen und sonstigen institutionellen Rahmenbedingungen) in den Blick,
- um vor diesem Hintergrund die Motivationslage in einer standardisierten und damit leichter nachvollziehbaren Weise zu analysieren.
Bezugspunkt ist dabei jeweils eine konkrete Handlungssituation und die dort zu beobachtenden verhaltensbeeinflussenden Faktoren.
Ziel der Analyse ist es, die Zusammenhänge und die für den aktuellen „Ist-Zustand“ maßgeblichen verhaltensbeeinflussenden Faktoren sichtbar zu machen, um zu verstehen, WARUM sich die Akteure im Handlungsfeld so verhalten, wie sie es tun.
Auf dieser Basis sind die Risiken und die relevanten Faktoren (in und für die Organisation) zu analysieren.
Dieser Schritt generiert vor allem Systemwissen. Es geht darum, die verhaltensbeeinflussenden Faktoren zu erkennen, die Risiken vergrößern bzw. dazu führen, dass die Organisation die (selbst gesetzten oder normativ vorgegebenen) Ziele nicht erreicht, zu einer Nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Derartige Faktoren können unter anderen in organisationalen Strukturen und dem dadurch geprägten Verhalten der betriebsinternen Akteure liegen.
4. Aus dem Vergleich von „Soll“ und „Ist“-Zustand ergibt sich in der Regel ein „Delta“: Die als „Problemimpuls“ (Schritt 1) wahrgenommene Konstellation verweist mithin darauf, dass die Anreiz- und Hemmnis-Situation im status quo das Verhalten der Akteure nicht in einer Weise beeinflusst, die sie veranlasst, die Verhaltensbeiträge zu erbringen, die im Hinblick auf das „Soll“ erforderlich sind. Die motivationale Analyse legt akteurspezifisch Anreizdefizite offen und identifiert Hemmnisse ("Stolpersteine").
Indem die Anreiz- und Hemmnis-Analyse die Frage nach dem WARUM des beobachteten Verhaltens beantwortet, identifiziert sie zugleich die "Hebelpunkte", an denen mögliche Maßnahmen ansetzen könnten.
5. Die Ergebnisse aus Schritt 4 erlauben es, auf der realweltlichen Ebene Antworten zu formulieren, die "maßgeschneidert" an die jeweilige Handlungssituation ("Wer muss, wann was tun bzw. mit wem wie kommunizieren/kooperieren") anknüpfen. Damit lassen sich Lösungsvorschläge als Gestaltungsoptionen entwickeln, die dazu beitragen, das „Delta 1. Ordnung“ möglichst schonend zu verringern, indem veränderte betriebliche, branchenbezogene oder regulativ verankerte Rahmenbedingungen, akteurspezifisch die Anreize verstärken und die Hemmnisse verringern ("Responsive Regulierung").
Dieser Schritt beinhaltet Entwicklungsoptionen und beschreibt die jeweiligen Veränderungsprozesse. Er stützt sich u.a. auf Verhaltensprognosen oder auf „Szenario-Prozesse“, die umschreiben, wie das Delta anzugehen ist und welche „Aufwendungen“ damit verbunden sind.
Bei diesem Schritt steht das Transformationswissen im Vordergrund, gestützt auf das in Schritt 3 gewonnene Systemwissen; er integriert aber auch das Wissen um die Ziele (normative Orientierung).
6. Die Gestaltungsoptionen sind sodann an den eingangs formulierten Kriterien bzw. Zielen zu messen. Dabei ist für die Optionen jeweils zu fragen, welcher Nutzen (Verringerung des realtweltlichen Deltas) zu erwarten ist und welcher Aufwand dafür (durch wen) zu erbringen ist. Anhand dieser Gegenüberstellung (z.B. in einer Vier-Felder-Matrix), lässt sich dann begründen, welche Optionen vorrangig in Angriff zu nehmen sind. Daraus ergeben sich dann die Gestaltungsempfehlungen.
In aller Regel ist bereits absehbar, dass sich mit den entwickelten Gestaltungsempfehlungen nicht alle Elemente der Zielbeschreibung in vollem Umfang erreichen lassen. Das daraus resultierende „Rest-Delta“ ins Auge zu fassen, ist ein wichtiger, alle Wissenstypen zusammenführender Zwischenschritt, wobei das Systemwissen im Vordergrund steht. Auf dieser Grundlage lassen sich entsprechende Risiko-Managementmaßnahmen entwickeln, die in der Regel etwa auch Monitoring-Instrumente einschließen.
7. Abschließend sind geeignete Strategien zu entwickeln, um die analysierten Handlungsoptionen umzusetzen. Dazu bietet sich meist eine zeitliche Abfolge an, bei der die Maßnahmen aufeinenader aufbauen ("Roadmap").
Die Umsetzung der Handlungsoptionen liegt dann in der Sphäre der Praxisakteure. Dies kann auf der Mikro-Ebene einzelner Organisationen (z.B. Unternehmen) oder Personen, aber auch bei Kooperationsmechanismen auf der Meso-Ebene (z.B. durch Standardisierung innerhalb einer Branche) oder auf der Makro-Ebene gesellschaftlicher Rahmenbedingungen (etwa durch Rechtsnormen) geschehen.
Um die Umsetzungsstrategien erfolgreich in Angriff zu nehmen, ist Transformationswissen erforderlich.
Anzumerken ist, dass die einzelnen Analyseschritte nicht losgelöst von dem jeweiligen Untersuchungsziel durchzuführen sind; im Sinne eines pragmatischen, handlungsorientierten Ansatzes sind vielmehr ergebnisorientiert die nächsten Schritte bereits mitzubedenken (und gegebenenfalls die Befunde des vorherigen Schrittes - iterativ - anzupassen). Zudem gilt es im Blick zu behalten, dass jede Gestaltungsoption nur eine „vorläufige“ Lösung darstellt, dessen praktische Eignung und die damit verbundenen Wirkungen begleitend zu beobachten bzw. auch gesondert zu evaluieren ist, um ein „Nachsteuern“ einzuleiten, womit der Prozess wieder bei Schritt 1 beginnt.
Methodische Einordnung:
Die vorgenannten sieben Schritten stützen sich auf eine „Theory of Change“, also eine theoretisch fundierte Vorstellung davon, welche „Modes of Change“ in der Lage sind, das Verhalten der Akteure so zu beeinflussen, dass man sich dem Zielzustand annähert: Dazu bedarf es geeigneter Hilfestellungen (= Veränderungen der [institutionellen] Rahmenbedingungen), die die Anreiz- und Hemmnis-Situation der Akteure so verändern, dass sie nicht im Ist-Zustand verharren, sondern bereit, willens und in der Lage sind, sich auf die normativ indentierten Transformationsprozesse einzulassen.
[1] UN General Assembly, Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, Resolution adopted by the General Assembly, 25.9.2015, A/70/L.1.